Es war einmal, Somalia - so könnte die Geschichte beginnen über ein Land, das während der vergangenen fünfzehn Jahre zu einem Mosaik aus selbsternannten Kriegsherren, Islamisten und international eingesetzten Regierungen zerbrochen ist.
Seit dem Sturz des früheren Diktators Siad Barre regieren Kriegsherren über Territorien oft nicht grösser als ein paar Häuserblocks, während im Schatten der Strassenblockaden individuelle und humanitäre Katastrophen das Leben der Bevölkerung bestimmen. Es ist ein Trümmerfeld, das selbst für Insider schwer durchschaubar ist.
Über die Jahre ist Somalia zunehmend aus dem globalen Gedächtnis verschwunden. Erst in den vergangenen Monaten hat das mediale Auge erneut seinen Blick auf die Region gerichtet. Eigentlich bieten die Bilder die seit kurzem wieder in Zeitungen erscheinen nichts neues. Es sind dieselben Szenen, die bereits in den frühen Neunzigern die Medien bestimmten: Junge Somalis, die mit einer AK47 über der Schulter auf bewaffneten Fahrzeugen durch die Strassen der Hauptstadt ziehen. Doch hinter den bekannten Kulissen verbirgt sich eine neue Machtkonstellation.
In Eile übernahmen Anhänger der islamischen Gerichte die Kontrolle über Mogadischu und schreiten mit grossen Schritten hin zu anderen strategischen Orten im Süden Somalias.
„Ihr Einfluss nimmt mit jeder Stunde zu. Selbst viele der früheren Kriegsherren treten der Bewegung bei“, erzählt Dr. Abdirahman aus Somaliland. „Von den Einwohnern werden sie mit offenen Armen empfangen. Seit Jahren hat sich ein Argwohn gegenüber Kriegsherren entwickelt, der durch die angebliche Unterstützung der USA weiter zugenommen hat. Ausser Zerstörung und Unsicherheit hatten diese Kriegsherren wenig für die Bevölkerung zu bieten. Im Gegensatz dazu sind die neuen Authoritäten respektierte Sheikhs ohne Beziehung zu westlichen Mächten. Niemand fragt, wer wirklich hinter dieser Bewegung steht“. Viele der westlichen Mächte vermuten Al Kaida Zellen in Somalia und verdächtigen das Land, eine Brutstelle für vergangene und zukünftige Terroranschläge zu sein. Obwohl laut Dr. Abdirahman bereits 1999 vier lokale Schariagerichte eine Bewegung gründeten, blieb ihr Einfluss begrenzt. Erst 2004 traten sie erneut und mit mehr Unterstützung an die Öffentlichkeit. Doch so geeint wie von aussen scheint die Bewegung von innen gar nicht zu sein: einige der elf Mitglieder verhalten sich moderat und äussern Interesse an einer Stabilisirung der Region. Andere streben politische Macht und Einfluss an; eine vermutlich kleinere Gruppe besteht aus Extremisten mit Links zu der arabischen Welt. Doch so genau weiss das niemand. Die Tatsache, dass es dieser Gruppe innerhalb kürzester Zeit möglich war, alteingesessene Warlords heimatlos zu machen und die Gefechte der vergangenen Jahre zu beruhigen, scheint genügend Unterstützung bei der Bevölkerung hervorzurufen. „Wie diese Gruppe in Zukunft regiert, ist für die Mehrheit der Bevölkerung nebensächlich“. Auch in anderen Teilen Somalias ruft die Beruhigung der Lage Wohlwollen hervor. So etwa bei Fusia, deren Familienmitglieder in Mogadishu leben: „Zum ersten mal seit langem weiss ich, dass sie keiner direkten Gefahr ausgesetzt sind“.
Fraglich ist, wielange diese Ruhe anhalten wird. In vielen Ländern regt sich Unmut über die neueren Entwicklungen. Sich weigernd, ihre offzielle Position zu ändern, unterstützen viele Länder, insbesondere die Nachbarstaaten, weiterhin die schwache Übergangsregierung. Deren Präsident Yusuf Abdullahi Anstatt stellt sich vehement sowohl gegen Islamisten als auch den Anhängern der Allianz gegen den Terror. Dabei baut seine eigene Allianz auf äusserst fragilen Säulen, mit mehr Unterstützung von ausserhalb als von innerhalb des Landes. „Es fehlt an Vertrauen in die Regierung von Seiten der Bevölkerung. Das letzte mal, als sie ihre Waffen in die Hände eines Presidenten übergaben, bezahlten sie bitter“, sagt Abdihakim, Mitarbeter einer internationalen NGO. Neben der Unterstützung der Übergangsregierung zeichnen sich am Horizont im Westen bereits neue Massnahmen gegen eine Machtübernahme der Schariagerichte ab. So haben die USA als Reaktion auf den missglückten Deal mit der Allianz gegen den Terror kürzlich eine „Somalia Contact Group“ gegründet, die auf diplomatische Wege erreichen soll, was informelle Geldübergaben nicht geschafft haben.
Laut Dr Abdirahman gibt es jedoch nur ein realistisches Zukunftsszenarium: Während die internationale GEmeinschaft weiterhin an die Übergangsregierung klammert, gewinnen die islamischen Gerichte an Einfluss im ganzen Land. Es wird eine militärische Intervention geben, unterstützt auch von den Nachbarländern, und letzten Endes wird das Land wie bereits zuvor in Scherben liegen. An eine friedliche Einigung und Integration der Islamisten in die Übergangsregierung glaubt niemand. Denn auch zu einem moderaten islamischen Staat am Horn of Afrika würde die internationalen Gemeinde wohl kaum zustimmen. Über den Einfluss der jüngsten Ereignisse im Süden auf andere Teile Somalias spalten sich die Meinungen: Besonders Somaliland, das 1991 die Unabhängigkeit erklärte, demonstriert seit einigen Jahren Frieden und relative Stabilität. Einige befürchten nun, dass diese Stabilität durch die Veränderungen im Süden gefährdet sein könnte: „Wir sollten diese Entwicklungen nicht als ein entferntes Ereignis betrachten. Je stärker die Islamisten im Süden werden, desto mehr Sympathien werden sie hier in Somaliland gewinnen“, so Abdihakim. Andere wie etwa Dr. Abdirahman sehen den Einfluss gemäßigter: „auch wenn die Islamisten an Sympathie gewinnen so würde die Bevölkerung hier niemals eine Machtübernahme von aussen erlauben. Verschlechtert sich die Situation, so werden vermutlich mehr Flüchtlinge aus dem Süden hierherkommen und das Land dadurch destabilisieren“
Das „Retortenkind Somalia“ scheint trotz internationaler Anerkennung weiterhin nur als Imaginäres Gebilde zu existieren. Somalia bleibt ein krankhaftes Gefüge, dessen Zukunft determiniert ist von den Eigeninteressen anderer Staaten, und dem Durchhaltevermögen der diversen Gruppierungen innerhalb des Landes Eine pragmatische Neupositionierung der internationalen Gemeinschaft auch gegenüber Teilen des Landes, die relative Stabilität und Willen auf Zusammenarbeit zeigen, hat sich bisher nicht gezeigt.
Doch zumindest bei der Bevölkerung keimt vorübergehend Hoffnung: auf ein bisschen Frieden und Ordnung, auf ein Somalia, das einmal war.